Ich empfehle heute eine Ausstellung über Volkskultur – gerade auch jenen Leuten, die schon beim Wort Volkskultur Pickel bekommen. Sie erfahren dabei einiges über die zweischneidige Rolle der Bräuche in Österreich und der Schweiz. Das Haus Appenzell an der Bahnhofstrasse in Zürich hat eine Ausstellung zusammengestellt, in der drei Klausenbräuche nebeneinander präsentiert werden: Das Urnäscher Silvesterklausen, das Klausjagen in Küssnacht an der Rigi und der Glöcklerlauf im österreichischen Ebensee. Schon die Vernissage war ein besonderes Erlebnis, das die Bahnhofstrasse in dieser Form kaum je erlebt haben dürfte: Es waren nämlich aus allen drei Dörfern die „Kläuse“ nach Zürich gekommen, um hier mit viel Lärm ihren je eigenen Brauch zu demonstrieren. Die Polizei kam mit eingeschaltetem Martinshorn, die Hausabwärte aus der Nachbarschaft stellten sich breitbeinig vor ihre Liegenschaften. Doch bald war allen klar, dass der Lichter- und Lärmzauber vor dem Haus Appenzell harmloser Natur war. Die Vernissage war übrigens recht prominent besetzt: Die Landammänner beider Appenzell waren vor Ort und zeigten damit, wie wichtig ihnen der Kulturaustausch mit dem grossen Zürich ist.
Die Ausstellung ist sehr sorgfältig gemacht. Ernst Hohl und die Kuratorin Yu Hao sind den Bräuchen und den Leuten, die sie noch immer betreiben, auf feinfühlige Art gerecht geworden. Man wird richtiggehend hineingezogen in die Faszination, die von den archaischen Bräuchen auch heute noch ausgeht. Über den Katalog muss ich etwas vorsichtiger berichten, da ich selber einen Artikel dazu beigesteuert habe. Weil ich letztes Jahr ein Buch über das Küssnachter Klausjagen verfassen durfte, wurde ich nun auch für einen kleineren Beitrag zum gleichen Thema angefragt. Auch im Katalog werden Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Bräuchen deutlich: So wurde beispielsweise in Ebensee wie in Küssnacht bis vor kurzem noch die Ansicht vertreten, dass der jeweilige Brauch heidnischen Ursprungs sei und also Jahrtausende alte Wurzeln habe. Was den Glöcklerlauf betrifft, hat der renommierte österreichische Volkskundler Franz Grieshofer genau ein Wort für diese Thesen parat: „Unsinn!“ – was sich allein schon an der Tatsache festmachen liesse, dass die Gemeinde Ebensee erst im Jahr 1604 gegründet worden ist. Im Katalog erwähnt der Ebenseer Historiker Franz Gillesberger dann, woher die seltsamen Theorien stammen – nämlich aus der Nazizeit. Den Nationalsozialisten, die ab 1938 in Österreich das Sagen hatten, konnte nichts zu germanisch, heidnisch und vorchristlich sein. Die Glöckler, denen man eine solche Entstehungsgeschichte andichtete, mussten sogar in Goslar an einer grossen Brauchtumsschau teilnehmen und in Berlin unter dem Brandenburger Tor durchmarschieren.
Auch in der Schweiz wurde im 19. Jahrhundert (und dann wieder in den zwanziger und dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts) eifrig nach uralten schweizerischen Traditionen gesucht – auch um das junge und noch fragile Staatengebilde Schweiz zusammenzuhalten. 1926 wurde die schweizerische Trachtenvereinigung gegründet, zwei Jahre später die Küssnachter St. Niklausengesellschaft, die den alten Klausenbrauch in geordnete Bahnen lenkte – und damit vor dem Zugriff der Behörden rettete. Beide Organisationen sellten sich in den Dienst der geistigen Landesverteidigung und traten auch an der „Landi 39“ auf, die zum Inbegriff eben dieser Haltung wurde. Diese Fakten habe ich im Katalogtext und noch viel ausführlicher im Buch über das Klausjagen ausgeführt – was mich aber in keiner Art daran hindert, alljährlich mit grosser Begeisterung am Klausjagen in Küssnacht teilzunehmen. Ich halte es da sehr pragmatisch mit Franz Gillesberger: „Ein Brauch kann doch auch schön sein, wenn er nicht Jahrhunderte alt ist.“