Die linken Zürcher Wahlkreise konnten auch anders …

Die Stadtkreise 4 und 5, die in einem gemeinsamen Wahlkreis verbunden sind, wählen und stimmen praktisch immer so, wie es die Gruppierungen am linken politischen Rand vorschlagen. Bei eidgenössischen Initiativen sind sie in der Regel sogar jener Wahlkreis, der die höchsten Ja-Anteile bei rot-grünen Anliegen erreicht. Die Juso-Initiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern», kurz «99-Prozent-Initiative», erreichte am 26. September 2021 bundesweit einen Ja-Anteil von nur gerade 35,1 Prozent. Im Kanton Zürich betrug der Ja-Anteil 36 Prozent. Im Wahlkreis 4+5 hingegen sagten 62 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja. Die kantonale Uferweg-Initiative erreichte am 3. März dieses Jahres nur gerade 36 Prozent Ja-Stimmen. Im Wahlkreis 4+5 waren es auch diesmal 62 Prozent.

Das war aber nicht immer so. Zufällig habe ich kürzlich einen Artikel aus der Zeitschrift «Die Staatsbürgerin» entdeckt, in dem die kantonale Abstimmung über das Frauenstimmrecht von 1966 analysiert wird. Die Männer des Kantons Zürich stimmten nur zu 46,4 Prozent mit Ja, in der Stadt Zürich waren es immerhin 55,2 Prozent. Der Ja-Stimmen-Überschuss in der Stadt reichte aber nicht aus, die Nein-Stimmen aus grossen Teilen des übrigen Kantons zu kompensieren. Die Arbeiter-Kreise 4 und 5 halfen auch nicht – im Gegenteil: sie waren die einzigen Stadtzürcher Stimmkreise, die das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene ablehnten. Der Kreis 4 erreichte einen Ja-Stimmen-Anteil von 49,2 Prozent, der Kreis 5 kam sogar nur auf 45,9 Prozent Ja.

Auffallend war, dass in den Gemeinden mit den höchsten Nein-Anteilen die Stimmbeteiligung sehr hoch war. Vor der Abstimmungen gab es kaum öffentlich vorgetragene Ablehnung, umso heftiger kam dann der Nein-Sturm an der Urne. Die NZZ teilte auch die Stimmbürger in den Arbeiterkreisen in diese Kategorie ein: «Es zeigte sich gerade hier, was viele auf Grund früherer Erfahrungen befürchtet hatten, nämlich eine stille, aber an der Urne um so wirksamere Opposition gegen das Frauenstimmrecht in den Arbeiterkreisen.» Am SP-Parteitag war ohne Diskussion die Ja-Parole herausgegeben worden. Offensichtlich wollte man eine Konfrontation vermeiden. Nun aber habe es sich gezeigt, so die NZZ, «dass zwischen Parteiprogramm und Tat in dieser Frage ein Graben klafft».

Man konnte 1966 schön ausrechnen, wann die Zürcher Männer so weit wären, das Frauenstimmrecht anzunehmen. Alles eine Frage der Mathematik.

Die Verfasserin des Artikels in der «Staatsbürgerin» war nicht sehr überrascht vom Nein der Zürcher. Man hatte nämlich schon Monate vor der Abstimmung eine Berechnung angestellt, wie hoch etwa der Ja-Anteil ausfallen werde. Dabei hatte man auf die Abstimmungsresultate aus Basel abgestellt und die Ergebnisse in Zürich sehr exakt vorausgesehen. Die «Berechnung» wurde allerdings erst nach der Abstimmung veröffentlicht, um die Resultate nicht durch die Publikation zu verfälschen. Interessant ist auch eine Grafik, die gewissermassen vorausberechnet, wann die Zürcher Männer so weit sein könnten, Ja zum Frauenstimmrecht zu sagen. Die Kurve erreicht 1969 die Grenze zur Ja-Mehrheit.

Tatsächlich wurde die Abstimmung dann 1970 durchgeführt. Die Ja-Anteile waren noch viel grösser geworden als es die etwas statische Grafik vorausgesagt hatte: 115’839 Männer sagten Ja, 57’010 Nein. Das entspricht einem Ja-Anteil von 67 Prozent. In der Stadt Zürich waren es sogar 74,7 Prozent. Auch die beiden Arbeiterkreise 4 und 5 sagten bei der Abstimmung am 16. November 1970 deutlich Ja, mit Anteilen von 70 beziehungsweise 67,2 Prozent. Die Ja-Anteile sind allerdings noch immer die tiefsten von allen Wahlkreisen in der Stadt Zürich. Doch das wiegt wohl deutlich weniger schwer als das Abstimmungsverhalten der beiden Kreise wenige Monate zuvor, am 7. Juni: Bei der eidgenössischen Volksinitiative «gegen die Überfremdung», der sogenannten Schwarzenbach-Initiative, sprachen sich die Stimmenden in der Stadt mit einem Ja-Anteil von 45,1 Prozent dagegen aus. Im Kreis 4 sagten aber 59 Prozent Ja, und im Kreis 5 waren es sogar 68 Prozent Ja. «Ein Tiefpunkt in der Geschichte von Aussersihl», sagte einmal Hannes Lindenmeyer, der sich intensiv mit der Geschichte der Arbeiterkreise Zürichs befasst hat.

ChatGPT übernehmen Sie!

Endlich habe ich eine elegante Lösung gefunden, diesen komatösen Blog wieder ins Leben zurückzurufen. Ich schreibe nicht mehr selber, sondern lasse schreiben! Die sogenannte künstliche Intelligenz soll sich für einmal nützlich machen und übernehmen, was ich in den letzten Monaten (und leider Jahren) liegen liess. ChatGPT hat sich bereit erklärt, meine Blogbeiträge zu schreiben – nach meinen Vorgaben und zu meinen Themen selbstverständlich. Wir siezen uns übrigens, aber er hat angefangen!

Zeichnung der grossen Mythe von Heinrich Müller 1877 (Wikipedia).

Zeichnung der grossen Mythe von Heinrich Müller 1877 (Wikipedia).

Erstes Thema ist das berühmte Mythenpanorama der noch viel berühmteren Geologie-Vaterfigur Albert Heim. Zwei Mal hat er vom grossen Mythen aus (Heim benützte konsequent die weibliche Form: «grosse Mythe».) ein äusserst detailliertes Panorama gezeichnet – zuerst als 17-jähriger Kantonsschüler und schliesslich als 74-Jähriger. Sein Sohn Arnold hat später einmal geschrieben, dass es sich beim Werk seines Vaters wissenschaftlich und landschaftlich wahrscheinlich um das beste Panorama handle, das je gezeichnet worden sei.

Wie wäre es, ChatGPT? «Gerne schreibe ich für Sie einen Blog über Albert Heims ‹Panorama von der grossen Mythe’», heisst es zu Beginn des Textes, der ausgedruckt fast ein A4-Blatt füllt. Dann folgen ein paar Angaben zu Albert Heim, einige zu den Mythen und dann die Beschreibung des Werks: «Das Gemälde ist 2,5 Meter breit und 1,5 Meter hoch und zeigt die grosse Mythe von verschiedenen Standorten aus betrachtet, um ein vollständiges Panorama des Berges zu geben. Es ist ein beeindruckendes Werk, das Heims Liebe zur Natur und sein Verständnis der Geologie der Region zeigt.»

Zuerst einmal: Ich hätte nicht gedacht, dass überhaupt etwas kommt. Ist ja eher ein Altherrenthema, das einem Jungspund wie ChatGPT durchaus unbekannt sein könnte. Er weiss aber erstaunlicherweise, wer Albert Heim war und was die Mythen sind. Ok, die Grösse der Zeichnung stimmt bei weitem nicht, und das Panorama zeigt auch nicht den Berg von verschiedenen Seiten, sondern die Aussicht vom Berg ringsum. Als ob er das während dem Schreiben gemerkt hätte, schiebt er noch nach: «Das Panorama zeigt auch die umliegenden Berge und Täler, und Heim fügte sogar einige der Pflanzen und Tiere hinzu, die in der Region zu finden sind.» Ok, es stehen natürlich Bäume in der Landschaft, die Tiere verstecken sich aber extrem gut.

Ich treibe das Spiel noch ein wenig weiter und möchte jetzt wissen, ob ChatGPT mir auch einen Blogbeitrag über das Panorama «von der kleinen Mythe» schreiben kann. Das gibt es zwar nicht, aber vielleicht fällt ihm ja trotzdem etwas dazu ein? Es folgt dies: «Natürlich kann ich einen Blog-Beitrag über Albert Heims Panorama von der kleinen Mythe schreiben. Hier ist ein möglicher Text: Albert Heims Panorama von der kleinen Mythe ist ein bemerkenswertes Kunstwerk, das die Schönheit und den Reichtum der griechischen Mythologie einfängt. Das Gemälde zeigt eine atemberaubende Landschaft, die von einer Vielzahl mmythologischer Figuren bevölkert wird, darunter Götter, Helden und Kreaturen aus der griechischen Mythologie.

Heim hat auch eine Vielzahl von mythologischen Figuren in das Gemälde integriert, darunter Zeus, der König der Götter, und Hera, die Königin der Götter. Auch Helden wie Herakles und Theseus sowie Kreaturen wie Zentauren und Harpyien sind zu sehen. Jeder Charakter ist mit einem erstaunlichen Detailgrad dargestellt und trägt zur Gesamtatmosphäre des Kunstwerks bei.»

Will er mich verulken? Mir auf geistreiche Art zeigen, dass es sich nicht gehört, solche unmöglichen Fragen zu stellen? Vielleicht hat er ja sogar Humor, neigt jedenfalls heftig zum Schwadronieren. Da frage ich nächstes Mal noch genauer nach. Vielleicht ist das ja der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen mir und ChatGPT. Aber schreiben muss ich vorläufig wohl noch selber.

Einem Haus und seinen Bewohnern auf der Spur

klein SYZ

George W. Syz mit seinen drei Söhnen im Jahr 1923.

Das Zürcher Architekturbüro Edelaar Mosayebi Inderbitzin hat eine Villa an der Signaustrasse sehr sorgfältig umgebaut und daraus ein exklusives kleines Hotel gemacht. Und das Trio hat es erfreulicherweise nicht bei der baulichen Umgestaltung belassen, sondern eine Publikation über das spezielle Haus und seine Verwandlung angestossen – und dabei auch vertiefende Nachforschungen über die Entstehungsgeschichte von Haus und Garten und die ursprüngliche Bewohnerschaft in Auftrag gegeben. Neben Michael Gnehm und Claudia Moll, die sich mit Haus und Garten auseinandersetzten, durfte ich den Spuren des Bauherrn, George W. Syz (1861-1946), und seiner Familie nachgehen.

Das war nun alles andere als einfach, denn es gab nur wenige verwertbare Quellen. Ich musste deshalb auf Erinnerungen noch lebender Nachfahren zurückgreifen und die wenigen Daten mit Beschreibungen aus Biografien Verwandter mit Leben zu füllen versuchen. Über den Vater von George W. Syz (1822-1883) ist sehr viel bekannt: Er war im Seidenhandel tätig, gehörte aber auch zu den Mitgründern der Zürich-Versicherung. Das war kein Zufall: Weil die Preise für Rohseide stark schwankten, suchten die Seidenhändler nach Versicherungsmöglichkeiten – und schufen die entsprechenden Firmen gleich selber. Dasselbe galt für die Banken: Diese halfen der Seidenindustrie, Phasen mit mangelnder Liquidität zu überbrücken. Die Seidenindustrie war die treibende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung Zürichs im 19. Jahrhundert – aber eben nicht nur im angestammten Bereich.

Die einflussreichen Zürcher führten im 19. Jahrhundert ein nobles, aber auch nüchternes Leben. In der Biografie des einflussreichen Riesbacher Wirtschaftsführers und Gemeinderats Peter Emil Huber-Werdmüller (1836-1915), der in vielfacher Hinsicht mit der Syz-Geschichte verbunden ist, liest man etwa, dass das Leben «schlicht und nüchtern» gewesen sei, «namentlich auch einfach in Speise und Trank». Und man stösst auf jenen Satz, den man zwei Mal lesen muss, bis man begreift, was da steht: «Wie in jedem echt zürcherischen Hause nahm die Geselligkeit keinen breiten Platz ein.» Man kümmerte sich um Geschäft und Familie, fürs Gesellige gab es die Zunft und die Zunfthäuser – im Fall von George W. Syz, der Familientradition entsprechend, die Zunft zur Saffran.

Es ist erstaunlich, wie stark sich die Biografien der damaligen Seidenindustriellen gleichen. Akademische Bildung stand nicht sehr hoch im Kurs. Stattdessen absolvierten die männlichen Nachkommen der Familien in der Regel die Industrieschule, machten eine kaufmännische Lehre und gingen dann für ein paar Jahre ins Ausland. Im Fall von George W. Syz waren es sogar 13 Jahre, die er zunächst in Lyon und später in Barcelona verbrachte. Kamen die jungen Herren dann aus dem Ausland zurück, kauften sie sich in der Regel in einen Betrieb ein oder übernahmen Aufgaben im eigenen Familienbetrieb. Bei George W. Syz war es die Seidenfabrik Naef in Affoltern am Albis; weil die Naef-Brüder kurz nacheinander starben, stieg Syz bald zum Chef des Unternehmens auf, das in seinen besten Zeiten allein am Hauptsitz 400 Personen beschäftigte.

Neben Ausbildung und Karriere war auch die standesgemässe Heirat gewissermassen vorbestimmt. Das lässt sich sehr schön am Richterswiler Zweig der Familie Syz zeigen. Dort kam es in zwei Generationen gleich zu mehreren Heiraten zwischen den Sprösslingen der Industriellen-Familien Hürlimann und Landis.

George W. Syz erlitt 1945 einen Unfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Er starb ein Jahr später an dessen Folgen. Fortan lebte seine Frau allein im grossen Haus, umsorgt allerdings wie zuvor von Köchin und Haushälterin.

Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten (Hg.): Signau Haus und Garten, Park Books 2019

Hans Frick war’s und nicht Heinrich Bräm

Hans Frick, der Direktor der mechanischen Seidenstoff-Weberi Adliswil

Hans Frick, der Direktor der mechanischen Seidenstoff-Weberei Adliswil

Ja, es ist tatsächlich nicht ganz einfach, historische Figuren auf Bildern zu ientifizieren. Im Fall der Albert-Heim-Hütte habe ich die Angaben aus einem wissenschaftlichen Beitrag übernommen, muss allerdings sagen, dass diese ziemlich sicher falsch sind. Es geht um die Person, die ich auf dem Bild zur Eröffnung der Hütte als Heinrich Bräm angeschrieben habe. In Tat und Wahrheit handelt es sich bei der Person um Hans Frick, den Direktor der mechanischen Seidenstoff-Weberei Adliswil (MSA), der mit grossem persönlichen Engagement die Finanzierung des Hüttenbaus sicherstellte.

In einem Zeitschriftenartikel zur Geschichte der Seidenindustrie habe ich ein Bild von Frick gefunden – und die Ähnlichkeit ist so gross, dass kaum noch Zweifel bestehen. In den besten Zeiten beschäftigte die MSA rund 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Patron war zuerst Robert Schwarzenbach (1839-1904), doch die Firma ging in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Frick über. Auf Heinrich Frick (1845-1910) folgte Hans Frick (1872-1936). In den dreissiger Jahren war dann aber endgültig Schluss: Der Firma ging es immer schlechter, bis sich die Banken aus dem Geschäft zurückzogen. Zudem war Hans Frick in den letzten Jahren immer kränker geworden.

Hans Frick war hauptsächlich dafür verantwortlich, dass der Bau der Albert-Heim-Hütte des SAC mit privaten Geldern erstellt werden konnte. Gustav Kruck, der Zürcher Stadtrat und Initiator des Hüttenbaus, dankte Frick in seinem Buch «Die Klubhütten der Sektion Uto» von 1922 überschwenglich für seinen Einsatz. Man darf annehmen, dass Frick noch viel mehr gezahlt hat als offiziell bekannt wurde. Eine Vereinigung von «12 Freunden der Berge» übergab den ersten Betrag von 10’000 Franken an Kruck, sammelte später aber weiter, weil die Kosten deutlich höher wurden. Die Spender wollten anonym bleiben, was den Verdacht stärkt, dass vor allem Frick in die Tasche gelangt hatte. In Fricks Werkstätten in Adliswil wurden später auch die Schreiner-, Glaser- und Zimmerarbeiten für die Hütte gemacht, bevor die einzelnen Teile dann von Männern aus Realp zur Baustelle auf 2500 Metern Höhe hochgetragen wurden.

Eine Feier für Albert Heim auf 2543 m ü. M.

Eröffnung klein

Am 22. September 1918 ist die Albert-Heim-Hütte eröffnet worden. Auf dem vergrösserten Foto (draufklicken!) erkennt man u.a. die Architekten Gustav Kruck und Heinrich Bräm, Albert Heim mit Geologenhammer und (ev.) den Bildhauer Eugen Meister. (Bildarchiv der ETH-Bibliothek)

Warum die Albert-Heim-Hütte des SAC so heisst, wissen wahrscheinlich die wenigsten, die dort übernachten. Ihnen schweben bei ihrem Aufenthalt wohl eher der Galenstock, das Chli Bielenhorn oder die Lochberglücke vor als ein Geologieprofessor, der von 1849 bis 1937 gelebt hat. Nun mussten sich die Hüttengäste aber überraschenderweise doch mit dem Mann befassen: Am 14. April wurde auf der Hütte deren hundertjähriges Bestehen gefeiert. Der Hüttenverwalter Robert Lienert und der Hüttenwart Roman Felber hatten zur Veranstaltung geladen, zu der ich einen kurzen Vortrag über die vielfältigen Interessen Albert Heims beisteuern durfte. Zuvor hatte der Geologe und langjährige Tourenleiter Rolf Bleiker die Verdienste Heims als Geologe und Hochschullehrer gewürdigt.

Heim war ein umtriebiger Krampfer, der neben seiner Hochschultätigkeit unzählige Gutachten verfasste und sich auch Themen widmete, die auf den ersten Blick leicht skurril wirken. So hat er sich etwa in einem längeren Artikel mit der Frage befasst, in welcher Tonart eigentlich Wasserfälle tönen (man hört einen tiefen F-Ton, der von hohen C-Dur-Akkorden überlagert ist). Oder er fragte sich, wie schwer eigentlich die Berge sind. Einen Namen machte er sich auch als ausgezeichneter Panoramazeichner und Hersteller zahlreicher Gebirgsreliefs. Die Fahrten mit dem Ballonpionier Edouard Spelterini halfen ihm bei der Bestimmung der Farben, die er für die Reliefs brauchte. Ausserdem setzte er sich für die Einführung der Kremation ein, damals noch Feuerbestattung genannt, und er ist interessierten Kreisen noch heute als namhafter Kynologe bekannt. Albert Heim schrieb nicht nur über das «Zughundewesen», sondern kreierte auch ein eigenes Geschirr, das an der Landesausstellung 1914 präsentiert wurde. Besonders am Herzen lagen ihm die Sennenhunde, für deren Weiterbestehen er sich einsetzte.
Ein ganz spezieller Artikel erschien 1892 im Jahrbuch des SAC: «Notizen über den Tod durch Absturz». Heim beschrieb darin nicht nur seinen eigenen Absturz am Säntis zwanzig Jahre zuvor, er befragte auch zahlreiche andere Opfer und deren Angehörige. Er selber habe beim Unfall, nach dem er eine halbe Stunde bewusstlos war, sein ganzes Leben «in zahlreichen Bildern sich abspielen» sehen. Er sei in einen Himmel mit rosa und violetten Wolken geschwebt und habe gleichzeitig sich selber frei durch die Luft fliegen sehen. Dabei hab er weder Angst noch Schmerz empfunden. Eigentlich wollte Heim den Angehörigen von Absturzopfern Mut machen, ihnen zeigen, dass dieser Tod  weniger schrecklich ist als man damals annahm. Mit seinen Schilderungen wurde er aber auch ein Vorläufer all der Bücher und Berichte über sogenannte Nahtoderlebnisse. Heim war übrigens kein religiöser Mensch, sondern nüchterner Wissenschafter. Kurz vor seinem Tod sagte er einmal: «Mich freut, was ich im Leben leisten konnte; es wird fortwirken. Dieses Jenseits genügt mir vollauf.»
Heim war auch ein ausdauernder Berggänger, der seinen Studenten auf Exkursionen bis ins hohe Alter zackig voranstieg. 1866, mit erst 17 Jahren wurde er Mitglied der Sektion Uto des Schweizer Alpenclubs SAC, die drei Jahre zuvor gegründet worden war. Er war begeistert von deren Sitzungen im Zunfthaus zur Saffran, an der viele seiner alpinistischen Vorbildern teilnahmen, unter vielen anderen etwa Heinrich Zeller-Horner oder Johann Müller-Wegmann. Immer wieder hielt Heim den SAC-Mitgliedern Vorträge über geologische Themen – und als er im Alter nicht mehr selber vorbeigehen konnte, schickte er längere Texte, die dann vorgelesen wurden. Albert Heim wurde nicht nur Ehrenmitglied der Sektion; mitten im Ersten Weltkrieg beschloss man, ihn zusätzlich mit der Benennung der neuen Hütte im Furkagebiet zu ehren. Heim bedeutete das sehr viel, schliesslich hatte er auch mitgeholfen, den genauen Standort der Hütte zu bestimmen. In einem allerdings irrte der Geologieprofessor: Er begründete die erhöhte Lage des Neubaus damit, dass sie auf diese Weise sicher sei vor dem allenfalls vorstossenden Tiefengletscher.
Nach der Feier folgt jetzt eine längere Durststrecke für all jene, die sich in diesem Gebiet tummeln: Die Hütte wird nun umfassend saniert und erweitert. Ab Spätsommer 2019 wird sie dann mit gesteigertem Komfort alten und neuen Gästen wieder offenstehen.

Zürich, die fröhliche Baustelle an der Limmat

Züriberg Besprechung klein

Besprechung des neuen Zürich-Buchs in der Quartierzeitung «Züriberg»

Jahr für Jahr wird in Zürich gejammert über die zahlreichen Baustellen, die für Staub und Dreck sorgen und einem den Weg versperren. Blickt man 150 Jahre zurück, relativiert sich allerdings die Situation gewaltig. Ich durfte für die Stadtzunft, die gerade ihr 150-jähriges Bestehen feiert, einen längeren Beitrag für ihr Jubiläumsbuch schreiben und konnte mich wieder einmal wundern darüber, wie rasch und tiefgreifend sich Zürich damals innert weniger Jahrzehnte verändert hat. In den dreissiger Jahren gab es einen ersten richtigen Schub: Die Schanzen wurden abgebrochen, was Raum bot für zahlreiche Bauten im inneren Kern der Stadt. Durch die engen Gässlein wurde eine neue Achse geschlagen, die den Postkutschen komfortablere Verhältnisse schuf. Beim heutigen Sechseläutenplatz entstand ein Kornhaus, die Münsterbrücke wurde gebaut, und zwischen Münsterhof und Paradeplatz wurde eine neue, breite Strasse angelegt. Passenderweise wurde an dieser Strasse die neue Post angelegt, wo die Kutschen ankamen und wegfuhren, die zuvor die engen Gassen der Altstadt verstopft hatten. Die Reiseführer lobten damals das neue Gebäude – und das gegenüber liegende Hotel Baur, das nobelste Gasthaus der Stadt. Gleichzeitig entschuldigte man sich bei den Touristen: Zürich sei ja normalerweise eine saubere Stadt. Weil aber momentan so viel gebaut werde, sei es entsprechend staubig und dreckig. Nach 1860 wurde die Stadt dann regelrecht umgestochen: Schanzengraben und Sihlkanal wurden verlegt, der Fröschengraben zugeschüttet und darauf die Bahnhofstrasse angelegt, ganze Quartiere neu gebaut – und andere vollständig beseitigt. Die schöne neue Post war nun ebenso überflüssig geworden wie das Kornhaus auf dem Sechseläutenplatz: Das Postgebäude wurde vorübergehend an die Kreditanstalt vermietet, das Kornhaus zur Tonhalle umgebaut und deren Betrieb in ein neues Gebäude beim Bahnhof verlegt. Die Bahn hatte innert kurzer Zeit die Kutschen überflüssig gemacht.

TitelbildMan muss der Stadtzunft danken dafür, dass sie nicht einfach eine Jubiläumsbroschüre verfasst hat, sondern mit einigem Aufwand ein richtiges Zürich-Buch geschaffen hat, das die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Facetten beleuchtet. Diverse namhafte Autoren haben sich daran beteiligt und beispielsweise die Bereiche Wirtschaft, Kultur oder politische Geschichte näher untersucht. Eingerahmt werden diese Fachartikel durch einen Stadtspaziergang um 1867 und einen Ausblick auf die weitere Entwicklung Zürichs. Und fast noch mehr als über die Geschichte der Stadt lässt sich staunen über die grosse Zahl von Bildern, die davon noch Zeugnis ablegen. Viele Fotos und Illustrationen hat man noch nie oder wenigstens schon sehr lange nicht mehr in einer Publikation gesehen.

Die Elite und das Volk, Version 1868

Eugen Escher

Eugen Escher (1831-1900), Zürcher Stadtschreiber, NZZ-Chefredaktor, Ständerat etc. etc.

Anfang 1868 errangen die Demokraten einen unglaublichen Sieg: Mit einer überaus deutlichen Mehrheit beschlossen die Stimmberechtigten, eine neue Verfassung mit deutlich erweiterten Volksrechten ausarbeiten zu lassen. Liberale und Konservative verstanden die Welt nicht mehr – vor allem aber das Volk. Sie kauften deshalb die NZZ und setzten einen neuen Chefredaktor ein, um mit diesem Volk eine «engere Fühlung» zu schaffen. Selbstverständlich ging die Sache schief. Aber zunächst der Reihe nach: Zentrale Figur in diesem Drama ist der Zürcher Jurist Eugen Escher (1831-1900). Wie einige seiner Zeitgenossen hatte er eine unglaubliche Fülle von Posten und Aufgaben: Er war Zürcher Stadtschreiber und gleichzeitig Gerichtsschreiber am Bundesgericht. Dazu Kantonsrat, National- und schliesslich auch Ständerat (nachdem ihn Alfred Escher überzeugt hatte, diesen Posten auch noch anzunehmen). Wir wissen relativ viel über Eugen Eschers Leben und Denken, weil seine Lebenserinnerungen nach seinem Tod in der NZZ erschienen sind. Zu finden sind diese unter dem Titel «Lebenslauf in ruhigen und bewegten Zeiten» auch als Separatdruck.

Eugen Escher war ein offener Geist und suchte auch in seiner Rolle als Stadtschreiber grösstmögliche Transparenz: «Vor allem bemühte ich mich, die noch immer sich zeigende, aus älteren Zeiten überkommene Geheimnistuerei über die Vorgänge und Bestrebungen in der Stadtverwaltung zu beseitigen und an deren Stelle eine regelmässige, sich gegenseitig stützende und fördernde Wechselwirkung zwischen Bevölkerung und Behörden zu setzen.» Er erfindet zu diesem Zweck Jahresberichte, Berichte zu Rechnung und Budget, Stadtratsmitteilungen und die öffentlichen Sitzungen des grossen Stadtrats (heute Gemeinderat), also alles Dinge, mit denen wir Lokaljournalisten uns täglich herumschlagen.

Die zusätzlichen Volksrechte, die sich die Demokraten auf die Flagge geschrieben hatten, waren Escher dann aber doch zu viel. Er habe zwar eine gewisse Sympathie für die Forderungen, stelle sich aber gleichwohl gegen die Demokraten, meinte er. Der Konflikt war aber auch einer zwischen Zürich und Winterthur, zwischen NZZ und «Landboten». Als Escher einmal fand, die baulichen Bestrebungen in Zürich würden über Gebühr von den demokratischen Kräften behindert, griff er selber zum Griffel und wandte sich vehement gegen eine Artikelserie im «Landboten», mit der seiner Ansicht nach die Landbevölkerung gegen Zürich aufgewiegelt wurde.

Der Sieg der Demokraten war für Escher ein schwerer Schlag. Vor allem aber schmerzte ihn, dass auch in Zürich selber eine Mehrheit für die neue Verfassung zusammenkam. Jetzt machte sich, so Escher in seinen Lebenserinnerungen, «in liberalen und konservativen Kreisen die Ansicht geltend, dass mit den Stimmberechtigten eine engere Fühlung geschaffen und hiefür insbesondere der Presse eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse». Gegner der Verfassungsrevision kauften darauf die NZZ, nachdem die Idee zur Gründung einer Konkurrenzzeitung verworfen worden war. Das Unternehmen wurde zur AG, Eugen Escher zum neuen Chefredaktor. Doch es war ein schwieriger Start. Escher erhöhte sofort die Preise für Abonnements und Inserate, brachte die Zeitung dafür zwei Mal täglich auf den Markt. An der Redaktion verzweifelte er fast: Das «vorhandene Redaktionspersonal» sei nicht nur numerisch unzureichend, «sondern auch in der Mehrzahl ungeeignet», fand er. Aber es gebe auch kaum genügend Leute auf dem Markt für diese Posten.

In den kommenden Jahren litt Escher zunehmend unter seinem Amt als NZZ-Chef. «Unmut und Niedergeschlagenheit» machten sich breit, nachdem die von ihm erhoffte politische Wirkung ausblieb. Er jammerte immer häufiger darüber dass er den «schönen Posten» bei der Stadt für den neuen Job aufgegeben hatte. 1872 geht er als Chefredaktor, bleibt aber Präsident des Verwaltungskomitees. Sein Nachfolger als Chefredaktor wird Hans Weber. Eugen Escher wird nun Nachfolger von Alfred Escher als Direktor der Nordostbahn. Auch dort erlebt er so manche Krise und wird schliesslich nach gut 22 Jahren im Amt vom Jungfraubahn-Erbauer Adolf Guyer-Zeller «in gewalttätiger Form beseitigt». Den abrupten Abgang verwand Eugen Escher nie. Die Verbitterung darüber, dass sein Lebenswerk zu wenig gewürdigt wurde, scheint in seinen Lebenserinnerungen immer wieder durch.

Die Sache mit Mussolinis Zürcher Rede

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Das Velodrom in Wiedikon, das 1918 abgebrochen wurde (grösseres Bild durch Klicken!)

Es folgen: Ein Lob auf die neue Turicensia-Lounge in der Zentralbibliothek und dann, was ich mir schon lange vorgenommen hatte, die Richtigstellung einer groben Falschmeldung, die seit Jahren durch Bücher und Zeitungsartikel geistert. Zum Lob aber zuerst: Die Zentralbibliothek hat umgebaut und für die Studentinnen und Studenten ganz viele Nischen gebaut, in denen sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten können. Die Sache erinnert mich stark an Hasenställe, weshalb ich nun immer gleich in die sogenannte Turicensia-Lounge fliehe, die für einen lokalhistorisch interessierten Zeitgenossen natürlich das Paradies ist (obwohl sich die sprachverliebten Zeitgenossen noch einen Bindestrich zwischen Turicensia und Lounge wünschen würden). Dieser Ort ist zwar neu geschaffen worden, er wirkt aber dennoch so, als wäre er ein wenig aus der Zeit gefallen. Es gibt hier alle möglichen Lokalzeitungen und -heftli, daneben Bücher und Broschüren über Zürichs Vergangenheit und Gegenwart. Sogar ein paar Bände der Zürcher Wochenchronik, dieser wundervollen Quelle zur Lokalgeschichte, sind dort greifbar.

img_2935Bei den Büchern steht unter anderem der Jubiläumsband zum Hundertjährigen der Offenen Rennbahn in Oerlikon – ein schöner, sorgfältig gemachter Bildband, der aber leider einen groben inhaltlichen Bock enthält. Schon im ersten Titel wird versprochen, dass man etwas über Mussolinis Rede erfahre, die ja eben in der Offenen Rennbahn stattgefunden haben soll. Dieser Unsinn geistert nun seit Jahren durch alle möglichen Publikationen, weshalb ich mir erlaube, die Sache endlich klarzustellen. Rein zeitlich wäre es natürlich möglich gewesen: Die Rennbahn in Oerlikon wurde 1912 eröffnet, Mussolini sprach am 1. Mai 1913 zu den «italienischen Genossen». Er ging damals noch als Sozialist durch und wurde angekündigt als «Direktor des Avanti, Mailand».

Auf dem Plakat zum «Arbeiter-Weltfeiertag» steht ferner, dass der Anlass im «Velodrom» stattgefunden hat. Die Autoren des Jubiläumsbuchs hätten eigentlich wissen müssen, dass man die Offene Rennbahn nicht Velodrom genannt hatte. Die Halle mit diesem Namen stand nämlich damals noch in Wiedikon, an der Ecke Manesse-/Zurlindenstrasse und diente der Zürcher Arbeiterbewegung sehr häufig als Veranstaltungslokal.

Wer mehr über Mussolinis Auftritt erfahren will, wird fündig in Ettore Cellas Buch «Das Damokles-Schwert». Darin schildert der 2004 verstorbene Schauspieler die Geschichte seines Vaters, Enrico Dezza, der das Restaurant Cooperativo geführt und im ersten Stock des gleichen Hauses eine sozialistische Zeitung redigiert hatte. Ettore Cella war im gleichen Jahr geboren worden, in dem Mussolini nach Zürich kam. Dieser sei «morgens im Velodrom im Sihlhölzli und nachmittags im Volkshaus» aufgetreten, lesen wir in seinem Buch.

Mussolini verkehrte im «Cooperativa», wie das Lokal damals noch hiess, übernachtete aber bei Bekannten. Er fürchtete sich vor Hotels, weil er zehn Jahre zuvor verhaftet und aus der Schweiz ausgewiesen worden war. Jahre später «wuchsen die Märchen über jenen Aufenthalt ins Unendliche. Alle wollten ihn gekannt und unterstützt haben», schrieb Cella. Auch dass Mussolini im Café Odeon seinen Kaffee getrunken haben soll, gehört in dieses Kapitel.

 

 

Eine rätselhafte Schweizer Kommission

klein Swiss Commission

«Swiss Commission», aufgenommen zwischen 1905 und 1945 (Grösseres Bild durch Draufklicken).

Die Library of Congress bietet im Internet seit Jahren digitalisierte Fotos in sehr guter Qualität an. Darunter hat es auch viele Bilder mit Schweizer oder Zürcher Themen, etwa eine riesige Sammlung sogenannnter Photochrom-Bilder mit Schweizer Landschaften. Photochrom bezeichnet ein Druckverfahren, mit dem aus Schwarzweissbildern farbige Ansichten hergestellt werden können. Diese Technik wurde ab 1880 bei Orell Füssli in Zürich entwickelt, weshalb auch die Zürcher Zentralbibliothek über eine umfangreiche Sammlung der sehr hübschen Bilder verfügt. Daneben findet man in der Library of Congress alle möglichen Schweizer Sujets, die von der Käseherstellung bis zum Eislaufen auf gefrorenen Seen reichen.

Eine ganz spezielle Sammlung innerhalb der Library of Congress bildet der Nachlass des Fotohauses Harris & Ewing Inc., das 1905 gegründet worden war und in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts bereits der grösste Betrieb seiner Art war. George W. Harris und Martha Ewing betrieben fünf Studios und beschäftigten 120 Mitarbeiter. Sie machten alles, was ein klassischer Fotografenbetrieb tut – von Hochzeitsbildern bis zu Porträtaufnahmen. Ein wichtiges Standbein war aber die News-Fotografie, für die ein wahres Heer von Freelancern beschäftigt wurde. Als der Betrieb aufgelöst wurde, erhielt die Library of Congress 50’000 News-Bilder und 20’000 Porträtfotos, teils auf Negativfilmen, teils aber auch noch auf Glasplatten.

Eine dieser Glasplatten aus der riesigen Sammlung hat es mir besonders angetan, vielleicht auch, weil man nicht weiss, wer darauf abgebildet ist. «Swiss Commission» heisst der Titel des Bildes, entstanden ist es laut den Bibliotheksangaben zwischen 1905 und 1945. Von der Foto geht ein ganz eigener Reiz aus, vermutlich wegen der unterschiedlichen Positionen der Hände, die entfernt an die drei Affen erinnern, die sich Augen, Ohren und Mund zuhalten. Und ja, ein bisschen schweizerisch wirken sie doch auch.

Und wieder ein Neuanfang auf der Schwägalp

Schwägalp klein

Das alte Restaurant, das nun abgebrochen wird, war auch die erste Talstation der Bahn, wie man dem Gebäude sehr gut ansieht. (Grösseres Bild beim Draufklicken)

Am 30. Juli 1935 wurde die Säntis-Luftseilbahn – oder wie es korrekt heisst: die Schwebebahn – in Betrieb genommen. Die erste Fahrt konnten die Verwaltungsräte geniessen, die beiden weiteren, «bei keineswegs reizlosem Nebeltreiben», geladene Gäste aus der ganzen Schweiz, wie es in einem zeitgenössischen Bericht hiess. Carl Meyer, der Initiant der Bahn, mochte an diesem Tag nicht nur jubeln: zu gross waren die Hindernisse, die man ihm in den Weg gelegt hatte, zu gross war auch der Widerstand der Behörden gegen sein Projekt gewesen. «Einen Berg von Schwierigkeiten» habe er bewältigen müssen, bis der andere Berg, der Säntis, endlich bezwungen war, sagte er bei seiner Eröffnungsrede.

Erst gut achtzig Jahre alt ist also die Geschichte der Säntis-Schwebebahn, und doch hat sie immer wieder tiefgreifende Veränderungen erlebt. 1960 etwa wurde die Stütze 1 auf der Schwägalp, die gewissermassen zum Markenzeichen der Bahn geworden war, ersatzlos niedergerissen. Aus der Stütze 3, bei der man aus- und einsteigen kann, wurde dadurch die Stütze 2. im Lauf der ersten grossen Ausbauphase in den siebziger Jahren wurde die Talstation verlegt; sie war nun nicht mehr mit dem Restaurant auf der Schwägalp verbunden, sondern bekam den neuen Standort, von dem aus sie noch immer startet.

Bau klein

Bau der Talstation für den Start der Bahn im Sommer 1935.

Die alte Talstation war aber am Bau des Bergrestaurants noch immer ablesbar; die Spitze des Gebäudes in Richtung Säntis zeigte an, wo die Gondeln in den ersten 25 Jahren starteten. Mit dem Neubau des Hotels/Restaurants ist nun aber auch das Ende des Altbaus mit Restaurant und ehemaliger Bahnstation gekommen. Seit Mitte März wird abgebrochen – oder schöner und korrekter gesagt: Stück für Stück zurückgebaut. Kein Bauteil geht verloren, alles wird schon gleich nach der Entfernung aus dem altehrwürdigen Gebäude auf je separate Haufen gelegt: Holz, Stein, Metall, Keramik usw.

Der «Abbruch» ist ein Spektakel für die zahlreichen Wanderer und Töfffahrer, die es mit den steigenden Temperaturen ins Freie und auf die Höhe zieht. Der Neubau bietet aber einen durchaus befriedigenden Ersatz. Er steht etwas am Rand der Schwägalp, weshalb er die Landschaft deutlich weniger beeinträchtigt als die alte Anlage. Die moderne Architektur dürfte für den einen oder andern noch etwas gewöhnungsbedürftig sein (vor allem die Metallornamente an der Fassade). Ich bin aber sicher, dass der Neubau von den zahlreichen Besucherinnen und Besucher bald ebenso ins Herz geschlossen wird wie das beim Altbau der Fall ist. Spätestens wenn letzterer vollständig abgetragen ist, wird man das Konzept und den zusätzlichen Freiraum auf der Schwägalp zu schätzen wissen.