Die linken Zürcher Wahlkreise konnten auch anders …

Die Stadtkreise 4 und 5, die in einem gemeinsamen Wahlkreis verbunden sind, wählen und stimmen praktisch immer so, wie es die Gruppierungen am linken politischen Rand vorschlagen. Bei eidgenössischen Initiativen sind sie in der Regel sogar jener Wahlkreis, der die höchsten Ja-Anteile bei rot-grünen Anliegen erreicht. Die Juso-Initiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern», kurz «99-Prozent-Initiative», erreichte am 26. September 2021 bundesweit einen Ja-Anteil von nur gerade 35,1 Prozent. Im Kanton Zürich betrug der Ja-Anteil 36 Prozent. Im Wahlkreis 4+5 hingegen sagten 62 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja. Die kantonale Uferweg-Initiative erreichte am 3. März dieses Jahres nur gerade 36 Prozent Ja-Stimmen. Im Wahlkreis 4+5 waren es auch diesmal 62 Prozent.

Das war aber nicht immer so. Zufällig habe ich kürzlich einen Artikel aus der Zeitschrift «Die Staatsbürgerin» entdeckt, in dem die kantonale Abstimmung über das Frauenstimmrecht von 1966 analysiert wird. Die Männer des Kantons Zürich stimmten nur zu 46,4 Prozent mit Ja, in der Stadt Zürich waren es immerhin 55,2 Prozent. Der Ja-Stimmen-Überschuss in der Stadt reichte aber nicht aus, die Nein-Stimmen aus grossen Teilen des übrigen Kantons zu kompensieren. Die Arbeiter-Kreise 4 und 5 halfen auch nicht – im Gegenteil: sie waren die einzigen Stadtzürcher Stimmkreise, die das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene ablehnten. Der Kreis 4 erreichte einen Ja-Stimmen-Anteil von 49,2 Prozent, der Kreis 5 kam sogar nur auf 45,9 Prozent Ja.

Auffallend war, dass in den Gemeinden mit den höchsten Nein-Anteilen die Stimmbeteiligung sehr hoch war. Vor der Abstimmungen gab es kaum öffentlich vorgetragene Ablehnung, umso heftiger kam dann der Nein-Sturm an der Urne. Die NZZ teilte auch die Stimmbürger in den Arbeiterkreisen in diese Kategorie ein: «Es zeigte sich gerade hier, was viele auf Grund früherer Erfahrungen befürchtet hatten, nämlich eine stille, aber an der Urne um so wirksamere Opposition gegen das Frauenstimmrecht in den Arbeiterkreisen.» Am SP-Parteitag war ohne Diskussion die Ja-Parole herausgegeben worden. Offensichtlich wollte man eine Konfrontation vermeiden. Nun aber habe es sich gezeigt, so die NZZ, «dass zwischen Parteiprogramm und Tat in dieser Frage ein Graben klafft».

Man konnte 1966 schön ausrechnen, wann die Zürcher Männer so weit wären, das Frauenstimmrecht anzunehmen. Alles eine Frage der Mathematik.

Die Verfasserin des Artikels in der «Staatsbürgerin» war nicht sehr überrascht vom Nein der Zürcher. Man hatte nämlich schon Monate vor der Abstimmung eine Berechnung angestellt, wie hoch etwa der Ja-Anteil ausfallen werde. Dabei hatte man auf die Abstimmungsresultate aus Basel abgestellt und die Ergebnisse in Zürich sehr exakt vorausgesehen. Die «Berechnung» wurde allerdings erst nach der Abstimmung veröffentlicht, um die Resultate nicht durch die Publikation zu verfälschen. Interessant ist auch eine Grafik, die gewissermassen vorausberechnet, wann die Zürcher Männer so weit sein könnten, Ja zum Frauenstimmrecht zu sagen. Die Kurve erreicht 1969 die Grenze zur Ja-Mehrheit.

Tatsächlich wurde die Abstimmung dann 1970 durchgeführt. Die Ja-Anteile waren noch viel grösser geworden als es die etwas statische Grafik vorausgesagt hatte: 115’839 Männer sagten Ja, 57’010 Nein. Das entspricht einem Ja-Anteil von 67 Prozent. In der Stadt Zürich waren es sogar 74,7 Prozent. Auch die beiden Arbeiterkreise 4 und 5 sagten bei der Abstimmung am 16. November 1970 deutlich Ja, mit Anteilen von 70 beziehungsweise 67,2 Prozent. Die Ja-Anteile sind allerdings noch immer die tiefsten von allen Wahlkreisen in der Stadt Zürich. Doch das wiegt wohl deutlich weniger schwer als das Abstimmungsverhalten der beiden Kreise wenige Monate zuvor, am 7. Juni: Bei der eidgenössischen Volksinitiative «gegen die Überfremdung», der sogenannten Schwarzenbach-Initiative, sprachen sich die Stimmenden in der Stadt mit einem Ja-Anteil von 45,1 Prozent dagegen aus. Im Kreis 4 sagten aber 59 Prozent Ja, und im Kreis 5 waren es sogar 68 Prozent Ja. «Ein Tiefpunkt in der Geschichte von Aussersihl», sagte einmal Hannes Lindenmeyer, der sich intensiv mit der Geschichte der Arbeiterkreise Zürichs befasst hat.