So, das musste jetzt sein: Das erste Säntis-Buch sollte nicht so ganz profan mit Post und Bähnli auf den Gipfel gelangen, sondern selbstverständlich hinaufgetragen werden. Bis 1935 gab es ja nichts Anderes: Wenn man Lasten auf den Säntis transportieren wollte, stellte man Lastenträger an. Die Bahn kam erst danach. Die Leistung dieser Träger kann man heute kaum mehr nachvollziehen: Der bekannteste unter ihnen, Josef Anton Rusch, genannt Steuble, soll jeweils zwischen 130 und 150 Pfund auf den Gipfel geschleppt haben. Als junger Träger war er beim Bau der meteorologischen Anstalt (1886/87) dabei. Immer wieder musste er auch zu Unfällen ausrücken und Leichen bergen. Er war es auch, der 1922 das ermordete Wetterwart-Paar auf dem Säntisgipfel fand. Immer wieder war er auch in Lawinen geraten, konnte sich aber auch stets retten. Über Vorfälle, die glücklich ausgegangen sind, hat man damals kaum je gesprochen. 1924 verabschiedete sich Steuble vom Dienst bei der meteorologischen Zentralanstalt – nach etwa 3000 Touren, die er die Jahre zuvor unternommen hatte. Die Nachfolge übernahm sein Sohn, den man Steublesres nannte.
Weil ich nicht weiss, ob man heutzutage noch Säntisträger buchen kann, habe ich den Job selber übernommen. Natürlich ist der Vergleich ein bisschen lächerlich: Steuble trug ganze Kühlschränke zur Meglisalp, bei mir war es ein Buch von 1,42 Kilogramm Gewicht. Aber es zählt ja der gute Wille – und nach 50 trug auch Steuble nicht mehr die ganz schweren Lasten. Der Wetterbericht war alles andere als gut: Am Wochenende hatte es zudem auf dem Gipfel rund 20 Zentimeter Schnee gegeben, angesagt war den ganzen Tag Regen, ab Mittag deutlich stärker. Vor Ort sah dann alles sehr viel besser aus: Auf der Schwägalp schien alles offen, sogar der Säntis-Gipfel war phasenweise wolkenfrei. Kurz vor neun Uhr zog ich los, kam auf den steilen Wegen durch die Mausfalle gut voran und erreichte bald das Gasthaus Tierwies, das allerdings noch geschlossen war. Ein paar Altschnee-Runsen waren zu queren, doch alles war relativ ungefährlich. Vor der Stütze 2 zeigte sich, dass der Schnee auch sein Gutes hat: Man konnte relativ einfach und sicher in der riesigen Altschnee-Runse aufsteigen. Weniger lustig war dann der Neuschnee vom letzten Wochenende, der vor allem in den oberen Partien noch haufenweise herumlag – und ziemlich schnell zu nassen Schuhen und Socken führte. Weil aber die Sicht wider Erwarten bis ganz zuoberst sehr gut war, habe ich den Aufstieg trotz allem genossen.
Nach gut drei Stunden erreichte ich den Eingang zur Seilbahnstation, bei der ich in früheren Jahren schon dramatische Szenen erlebt habe. Einmal schleppte sich vor mir ein junges Pärchen die Himmelsleiter hoch, die wegen des gefrorenen Schnees sehr schwierig zu erklimmen war. Oben angekommen, schaute die junge Frau ihren Typen nur kurz an – und gab ihm dann eine schallende Ohrfeige, wahrscheinlich dafür, dass er sie diesen Strapazen ausgesetzt hatte. Die Ankunft ganz oben ist immer speziell: Man landet von der wetterumtosten Himmelsleiter urplötzlich in einem stillen, dunklen Gang, über den man entweder mitten in die Touristenzone der Bahn gelangt oder auf der andern Seite auf neue Wanderwege, die zum Lisengrat führen.
Ich wählte den direkten Weg zum Alten Säntis, denn das erste Buch auf dem Säntis-Gipfel gebührte Ruedi Manser, dem dortigen Wirt, der mir letztes Jahr mit vielen Tipps und einigen schönen Bildern bei der Recherche geholfen hat. Ich erinnere mich an die Nacht vom 1. auf den 2. September letzten Jahres, die ich in seinem Haus auf dem Säntis verbracht hatte. Am Tag zuvor hatte es etwa zehn Zentimeter Neuschnee gegeben, der in der Nacht pickelhart gefror. Ich wagte es deshalb nicht mehr, zu Fuss abzusteigen. Aber mitten in der Nacht kam ein einsamer Berggänger in den Alten Säntis, der soeben von der Schwägalp aufgestiegen war – und diesen Weg kurz vor Mitternacht in der andern Richtung wieder unter die Füsse nahm. Man staunt immer wieder über solche Leute, die jeden Zentimeter eines Weges kennen und ihn auch nachts und im Nebel problemlos bewältigen können. Ich war schon froh, dass ich diesmal bei einigermassen guten Verhältnissen den Aufstieg locker geschafft hatte. Hinunter ging es dann aber mit der Schwebebahn.